Testosteron macht nicht (nur) aggressiv, vor allem macht es selbstbewusst!
Wichtig ist also, zu erkennen, warum der Hund scheinbar aggressives Verhalten zeigt! Geht es nämlich um angst- oder unsicherheitsmotiviertes Verhalten verschlimmert die Wegnahme des Testosterons das Bild also häufig sogar noch (bei Hündinnen tatäschlich noch häufiger als bei Rüden, denn ihnen fehlt nach einer Kastration ihr Geschlechtshormon, das Östrogen, das aggressives Verhalten "levelt").
Wichtig zu wissen, ist, dass das Testosteron eine wichtige Rolle spielt beim Muskelwachstum, höherer Knochendichte und dass es den Fett- und Zuckerstoffwechsel beeinflusst. Dies ist vor allem im Zusammenhang mit immer noch sehr häufig vorgenommenen Frühkastrationen relevant. Ist die erforderliche Knochendichte bis zum Zeitpunkt der Kastration nämlich noch nicht erreicht, wird sie auch nie erreicht werden und Probleme im Bewegungsapparat sind vorprogrammiert. Die schwachen Knochen können auch nicht durch vermehrte Muskelbildung "abgefangen" werden, denn auch hier mischt das Testosteron mit. Das bedeutet natürlich auch, dass kastrierte Hunde weniger Energie (weniger Muskeln = geringerer Energiebedarf) benötigen. Allerdings ist der Hunger meist sogar größer als bei intakten Rüden. Alles in allem ein denkbar ungünstiges Zusammenspiel vieler Faktoren.
Durch eine Kastration wird zwar nicht die komplette Testosteronproduktion unmöglich gemacht, denn auch in der Nebennierenrinde wird das Hormon gebildet, aber eben nur in sehr geringem Umfang, der tatsächlich vernachlässigbar ist.
Sehen wir uns die angstagressiven Hunde noch einmal näher an. Angstaggression
wird über das Cortisol als passives Stresshormon gesteuert. Ich spreche hier nicht von kurzzeitigem Stress oder kurzzeitig bedrohlichen Situationen, sondern von einem schädlichen Langzeitstress (sehr oft vorzufinden bei den armen "Wanderpokalen", die immer und immer wieder im Tierheim landen, bei Hunden aus dem Auslandstierschutz und schlecht gehaltenen Hunden, Hunden von Vermehrern usw.). Neben angstindizierter Aggression erlebt man bei diesen Hunden auch sehr häufig Inaktivität und Depression. Sie haben sich aufgegeben. Hinter all dem steckt das Cortisolsystem (auch Kontrollverlustsystem genannt).
Cortisol an sich ist nicht zu verteufeln. Im Gegenteil! Wie so oft kommt es hier auf die Konzentration an. In normaler Konzentration beeinflusst es Verdauung und Stoffwechsel positiv und ist damit sehr wichtig.
Cortisol steht in Wechselwirkung mit den Sexualhormonen, diese dämpfen seine Wirkung. Das heißt, dass die Sexualhormone einem zu hohen Cortisolspiegel sogar entgegenwirken. Sie hemmen die Cortisolausschüttung. Einem Hund mit einem zu hohen Cortisolspiegel nun auch noch das Testosteron durch eine Kastration zu nehmen, ist also ein denkbar schlechte Idee!
Andere Aggressionsarten werden durch die Ausschüttung anderer Hormone ausgelöst.
Weitere Stresshormone, die aggressives Verhalten bedingen, sind zum Beispiel die sogenannten Katecholamine, eine Gruppe eng miteinander verwandter Botenstoffe (Noradrenalin, Adrenalin, Dopamin).
In diesem Zusammenhang geht es vor allem um Leinenaggression und auf Selbstverteidigung ausgerichtetes Verhalten.
Verhält sich ein Hund leinenaggressiv, wird Noradrenalin ausgeschüttet. Noradrenalin ist nicht nur ein Hormon, sondern auch ein Neuromodulator, der leichtes Lernen begünstigt. Ein Erfolg wird abgespeichert (Dopaminausschüttung), das Verhalten wird leicht wiederholt, Reizschwellen werden gesenkt. Leinenaggression ist damit ein selbstbelohnendes Verhalten, das durch Lernprozesse fest verankert ist.
Und wo ist hier das Testosteron?
Richtig!
Nirgends.
Ein durch Katecholamine gesteuerters Verhalten hat mit Sexualhormonen nichts zu tun und wird auch durch den Wegfall dieser nicht beeinflusst.
Ein weiterer Aggressionskatalysator ist nur zu oft Eifersucht.
Eine durch Eifersucht indizierte Aggression
findet ihren hormonellen Auslöser im Vasopressin. (Es mutet fast schon ironisch an, dass Vasopressin die Vorstufe von Oxytocin, dem Bindungshormon, ist. Bei genauerer Betrachtung macht das aber durchaus Sinn!) Aber auch hier von Testosteron keine Spur. Ein weiteres Verhalten, das durch eine Kastration nicht beeinflusst werden kann.
Ein schwankender oder zu geringer Serotoninspiegel spielt bei statusbezogener Aggression
eine Rolle (Rangverbesserungsverhalten, Futter- und Ressourcenverteidigung). Ist es dem Hund gelungen durch die serotoninindizierte Aggression seinen Status zu verbessern, zieht das Testosteron als Erfolgshormon nach. Es ist aber nicht ursächlich, so dass ein Wegfall von Testosteron auch an diesem Verhalten nichts ändern wird.
Auch anderes unerwünschtes Verhalten ist nicht oder nicht nur durch Sexualhormone wie das Testosteron bedingt.
Das typische Aufreiten zum Beispiel kann, muss aber nicht sexuell motiviert sein! Um dies beurteilen zu können, sollte man sich genau ansehen, in welchem Zusammenhang das Aufreiten passiert und ob es vorangehende Verhaltensauffälligkeiten gibt. Zeit der Hund Werbeverhalten? Sabbert er, kräuselt er die Oberlippe oder klappert mit den Zähnen? All das würde tatsächlich auf eine Hypersexualität hinweisen.
Oftmals ist aber die scheinbar sexuelle Betätigung nur das Ventil für ein ganz anders gelagertes Problem.
Es kann sich beim Aufreiten auch um eine Bewegungsstereotypie handeln. Die rhythmische Bewegung führt zu Dopaminausschüttung. Und Hunde sind genauso dopaminsüchtig (belohnungssüchtig) wie du und ich. Häufig ist Stress der Auslöser. Der Hund hat nicht gelernt adäquat mit Stress umzugehen und kennt keine Bewältigungsmechanismen. Er will sich besser fühlen, er will Dopamin, ein Erfolgserlebnis durch Selbstbelohnung, in diesem Fall durchs Aufreiten. Selbstverständlich hat auch Dopamin - ebenso wie das oben erwähnte Noradrenalin - Wechselwirkungen mit Sexualhormonen. Aber auch hier sind die Sexualhormone nicht die Auslöser, sondern sozusagen "Erfolgshormone", deren Ausschüttung scheinbar sexualisierten Handlungen nachfolgt.
Auch in diesem Fall bietet eine Kastration keine Abhilfe. Der gestresste Hund, der keine Alternative kennt (und das Aufreiten als erlerntes, selbstbelohnendes Verhalten abgespeichert hat), wird auch in Zukunft mit deinem Bein oder dem Sofakissen kopulieren wollen, um sich zu beruhigen.
Für das stark mütterliche Verhalten, das vor allem Hündinnen zeigen, ist vor allem Prolaktin verantwortlich, das sogenannte Elternhormon, das auch beim Milcheinschuss eine Rolle spielt. Studien (an Wölfen) haben ergeben, dass der Prolaktinanstieg im Frühjahr (also wenn die Leitfamilie Nachwuchs hat) bei Kastraten ebenso hoch ist wie bei intakten Tieren (Rüden wie Hündinnen). Natürlich wird eine kastrierte Hündin keine klasische Scheinträchtigkeit/Scheinmutterschaft erleben. Es ist aber möglich, dass sie trotzdem übermütterliches Verhalten an den Tag legt, inklusive Milcheinschuss und Kuscheltierherumschlepperei.
Meine Erklärungen zu den Hormonen sind natürlich oberflächlicher Natur. Das Hormonsystem ist sehr kompliziert und man kann kaum ein Hormon für sich allein betrachten, da es immer in Wechselwirkung mit anderen steht. Deshalb habe ich zwar Wirkungsweisen vereinfacht erklärt, aber dennoch medizinisch fundiert. Ich möchte in meinen Artikeln nicht zu sehr ins fachchinesch abdriften, sondern jedem aufmerksamen Leser einen Zugang zu dem Thema ermöglichen. Wer es genauer wissen möchte, ist herzlich eingeladen, sich hier zu belesen und ich gebe gerne Literaturtipps und steige tiefer in die Materie ein. Ich hoffe, du siehst mir aber nach, dass ich dies nicht meinen Blogartikeln tun möchte und werde.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass Aggression und unerwünschtes - scheinbar sexualisiertes - Verhalten vielfältig begründet sein kann und eine Kastration als pauschaler Rat zur diesbezüglichen Verhaltensänderung nicht angebracht ist. Vielmehr ist es notwendig dem Verhalten auf den Grund zu gehen und es genau zu analysieren. Kastration ersetzt kein Training! Ich sage nicht, dass sie unter Umständen nicht auch hilfreich sein kann. Aber ich sage sehr wohl, dass sie kein Wunderheilmittel ist und dass man sich bewusst sein sollte, dass sie weitreichende Folgen hat, die weit über das Gewollte hinausgehen kann.
Abschließend für heute möchte ich eines ganz deutlich machen: Ich bin keine Kastrationsgegnerin. Aber ich bin sehr wohl eine Gegnerin gedankenloser Pauschalkastrationen und möchte, dass man sich gemeinhin mehr mit diesem Thema auseinadersetzt. Kastrationen sollten immer Einzelfallentscheidungen sein und Kastrationen haben weitreichende Konsequenzen. Das ist keine Entscheidung, die man zwischen Tür und Angel treffen sollte, "weil man das eben so macht".
Wenn du eine Testosteronschleuder zu Hause hast, die dir das Leben schwermacht, hast du immer noch die Möglicheit mittels Kastrationschip einen Testlauf zu fahren, um zu schauen, ob sich das Verhalten in die gewünschte Richtung verbessert. Aber auch in diesem Fall wirst du nicht ohne Training auskommen.
Wenn du überlegst, deinen Hund kastrieren zu lassen und dir nicht sicher bist wegen der Auswirkungen eines solchen Eingriffs, hol dir professionellen Rat vom Tierarzt deines Vertrauens oder auch von einem gut ausgebildeten Tierheilpraktiker. Es gibt sie immer noch, die Tierärzte der alten Schule. Bis vor wenigen Jahren wurde noch sehr viel leichtfertiger zur Kastration geraten oder gar vom Tierarzt vorausgesetzt. Sollte dir das passieren, bitte ich dich hier inständig, eine zweite Meinung einzuholen. Ich kenne Fälle, in denen der behandelnde Tierarzt schon bei der Grundimmunisierung eines Welpen den "demnächst anstehenden Kastrationstermin" anspricht als wäre das eine nicht zu diskutierende Notwendigkeit. Natürlich kenne ich noch mehr Fälle, in denen es anders läuft. Aber es ist mir dennoch ein Anliegen, dein Bewusstsein für diese Problematik etwas zu schärfen.
Es gibt noch so viel mehr zum Thema zu sagen, das mir wichtig ist (Frühkastration, vorbeugende Kastration zur Minimierung des Krebsrisikos), aber ich denke, es ist am besten, wenn wir uns dem Ganzen Stück für Stück nähern, deshalb ist an dieser für heute erstmal Schluss und wir lesen uns dann nächste Woche!
Lass mich gerne deine Meinung oder auch deine persönlichen Erfahrungen zum Thema wissen. Ich freue mich wie immer auf regen Austausch. :-)